Fünf Jahre Gotthard-Basistunnel
Nahezu perfekte Umsetzung und geräuschlos regulärer Betrieb: Vor fünf Jahren wurde der Gotthard-Basistunnel feierlich eröffnet. Ein Blick zurück von Wolfgang Stölzle.
Text: Prof. Dr. Wolfgang Stölzle*, Universität St.Gallen / Foto: Hannes Ortlieb
Kaum zu glauben – erst vor fünf Jahren wurde der Gotthard-Basistunnel, das Herzstück der Neuen Alpen Transversale (NEAT), feierlich eröffnet. Längst fahren die Züge im Meisterstück schweizerischer Ingenieurskunst so zuverlässig wie eben das bekannte Uhrwerk selber Provenienz. Und damit widerfährt der NEAT dasselbe Schicksal wie generell den Leistungen in Verkehr und Logistik: was perfekt funktioniert, wird öffentlich kaum wahrgenommen. Insofern sollte nach fünf Jahren der Blick zurück mit einem besonderen Augenmerk geworfen werden: es ist eigentlich fast schon unfassbar, wie nahezu überperfekt dieses Mega-Vorhaben umgesetzt wurde, bis hin zum geräuschlos regulären Betrieb. Aber was gibt Anlass für diese fast schon wehmütige Hymne?
NEAT: «NEue Alpen Transversale» oder «NEver Again Tried»?
Die Wurzeln liegen in den frühen 90er Jahren: Der damalige Bundesrat erkannte mit grosser Weitsicht, dass im Lichte des stark zunehmenden Verkehrsaufkommens im alpenquerenden Verkehr eine Verkehrsverlagerung nur mit einer neuen, leistungsfähigen Schienentrasse gelingen könne. Klar war, dass damit ein enormes Investitionsvolumen der öffentlichen Hand zu stemmen war. Unklar war hingegen nicht nur, ob es beim Hauptbauwerk – dem Gotthard-Basistunnel – überhaupt gelingen könne, den Berg zu durchbohren, sondern auch, ob die Nachbarländer Deutschland und Italien es schaffen würden, ihre Anschlussstrecken ebenfalls rechtzeitig zu modernisieren und dem neuen Kapazitätsdurchschnitt anzupassen. Dennoch hat der Bundesrat ausserordentlichen Mut bewiesen und trotz dieser sowie anderer Risiken das prestigeträchtige Infrastrukturprojekt in kurzer Zeit positiv entschieden. Besonders zu bejubeln ist dann aber die Realisierungszeit – nur etwa 25 Jahre für den Gotthard-Basistunnel mit seinen über 50 Kilometern Länge und weitere gute vier Jahre für den technisch anspruchsvollen Ceneri-Tunnel. Weshalb muss man diese Arie singen? Heute braucht allein die Umsetzung eines einfachen Autobahnanschlusses in der Schweiz von ersten öffentlichen Planungen bis zur Inbetriebnahme 25 Jahre! Andere Grossprojekte – genannt seien in der Schweiz «Cargo sous terrain» und in Deutschland der Hauptstadtflughafen in Berlin, das Bahnprojekt Stuttgart 21 oder die Elbvertiefung in Hamburg – werden mehrere Jahre später als geplant finalisiert, verbunden mit Budgetüberschreitungen in Höhe von oft weit mehr als 200 Prozent.
Grossprojekte: Schlechte Performance trotz Technologiefortschritt
Worin liegen die Gründe für diese Diskrepanz? Trotz Technologiefortschritt und Digitalisierung sackt die Performance bei Grossprojekten der Verkehrsinfrastruktur deutlich ab, teilweise soweit, dass man schlicht den Glauben an solche Projekte verlieren mag. An den Tools zum Projektmanagement liegt es wohl ebenso wenig wie an den verfügbaren Technologien zum präzisen Tunnelbau. Offenbar hat sich bei den verantwortlichen Politikern die Mentalität grundlegend geändert: Risiken werden überbewertet und nicht mehr mit ausgewogenem Weitblick abgewogen, schon gar nicht verbunden mit persönlicher Verantwortung angenommen. Hier bietet sich ein Vergleich mit der aktuellen Corona-Massnahmen-Politik an: die Politiker-Generation aus damaliger Zeit hat intern eine umfassende Risikoabwägung aller Massnahmen vorgenommen, professionell kommuniziert und zugleich der Bevölkerung mit vertrauensstiftenden Botschaften Mut gemacht, anstatt beispielsweise wegen drohender Verkehrsüberlastung das Reisen und den Güterverkehr über die Alpen zu verbieten. Demgegenüber erlebt man von der Politik heute vor allem einen permanenten Aufbau von Angst in Verbindung mit sehr einschneidenden Verboten. Mut und Zukunftsperspektive lassen sich so jedenfalls nicht aufbauen.
Unabhängig von Veränderungen in der politischen Kultur sind Genehmigungs- und Planungsverfahren wohl ein Treiber dafür, dass solch ein Grossprojekt heute wohl mehr als den doppelten Realisierungszeitraum in Anspruch nehmen würde: basisdemokratische Schleifen mit vielfältigen Klagemöglichkeiten verzögern die Planungsverfahren immens. In Deutschland machen die Planungskosten bei Infrastrukturprojekten mittlerweile etwa zwei Drittel der gesamten Projektkosten aus. Fraglich ist, ob durch den kaum mehr überschaubaren Planungs- und Genehmigungsaufwand der Zusatznutzen entsprechend zunimmt. Dies darf zumindest bezweifelt werden, denn die Nutzenbilanz wird durch erhebliche Realisierungsverzögerungen negativ geprägt.
Klimaschutz: Verlagerung auf Schiene und Binnenschiff
Was sind also die Botschaften des Meisterstücks NEAT, übertragen auf die heutige Zeit und deren Herausforderungen für den Verkehr? Nie wurde so stark und drängend über das Klima, dessen Erwärmung und die Notwendigkeit der Reduzierung von CO2-Emissionen diskutiert wie heute. Wenn man für diese Ziele nicht den geschätzten Wohlstand aufgeben und folglich den globalen Handel weiter ermöglichen will, sind für den kontinentalen Güterverkehr massive Anstrengungen einer Verlagerung auf die Schiene unerlässlich. Deshalb setzt der europäische Green Deal auch die Leitplanken für alle Akteure im Verkehrsbereich. Hier steht schon deshalb der multimodale Verkehr an der Speerspitze, weil oftmals der Vor- und Nachlauf auf der Strasse alternativlos ist. Es gilt deshalb, lange Hauptläufe auf die Schiene und – dort wo möglich – auch das Binnenschiff zu verlagern. Die Trassen-Infrastruktur hat dafür zumindest in der Schweiz ihren Beweis eindrücklich geliefert. Jetzt bedarf es noch erheblicher Anstrengungen bei den Anschlusstrassen ausserhalb Schweizer Grenzen sowie dem Nachrüsten der Terminallandschaft. Und dann kommt wohl die grösste Herausforderung: Die Entscheidungsträger in Unternehmen und Politik zu einem heute neuen, aber früher verbreiteten Denken zu bewegen – ganz im Sinne von «Die Verlagerung ist nur gemeinsam zu schaffen – Packen wir sie an!»
* Prof. Dr. Wolfgang Stölzle ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Supply Chain Management an der Universität St.Gallen und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministers für Verkehr und digitale Infrastruktur in Deutschland.