Schlank über die Gleise
Der Negrellisteg überquert das Gleisfeld unmittelbar beim Hauptbahnhof von Zürich. Als Fussgängerpassage verbindet er das neue Quartier Europaallee mit dem Stadtkreis 5. Das Projekt wurde als schlanker Stahlbau ausgeführt.
Einst sollte der Steg eine Röhre werden, welche das Schotterbett der Bahnhofsausfahrt vollkommen berührungslos überspannt. Das Projekt aus einem Architekturwettbewerb erwies sich als zu kostspielig. Jetzt ist der Negrellisteg, benannt nach dem auch in Zürich tätigen Verkehrsplaner Alois Negrelli (1799-1858), zum Himmel offen. Und zwischen den Zügen geben ihm vier grazile, dunkel gestrichene Stützen Halt. Alleine die Lage über dem Bahnbetrieb und den angrenzenden Quartieren verleihen dem Bauwerk ein Kultpotenzial. Die Stahlbauweise machte die leichte, diskrete Konstruktion möglich, welche sich diskret ins heterogene, betriebsame Umfeld einfügt.
Stahlbau vom Feinsten
Alles Grund genug für das Stahlbau Zentrum Schweiz (SZS), direkt am Tatort zu einem «steelinn» einzuladen, einer Anlassreihe, in der die Qualitäten der Stahlbauweise am gebauten Objekt vorgestellt werden. Die ausführende Mitgliedsfirma Officine Ghidoni SA aus Riazzino im Tessin liess sich nicht zweimal bitten; sein zuständiger Ingenieur, Dr. Ing. Uwe Bremen, führte die Teilnehmenden in die Geheimisse und den Entstehungsprozess des Negrellistegs ein. Unterstützt wurde er durch Ingenieur Gianfranco Bronzini. Dieser vertrat die ARGE Negrellisteg, bestehend aus der Conzett Bronzini Partner AG, der Diggelmann + Partner AG und den10:8 Architekten GmbH. Sie konnte 2017 den Studienauftrag von SBB und Stadt Zürich für sich entscheiden. Die Aufgabe bestand darin, nicht mehr wie im Architekturwettbewerb eine Fussgänger- und Velopassage zu entwerfen, sondern bloss einen relativ kostengünstigen Übergang für Fussgänger, mit einer Treppen- und Liftanlage an beiden Enden.
Neue Einblicke über den Gleisen
Der Zeitpunkt für eine Besichtigung war gut gewählt: Die bolzengerade verlaufende, rund 160 Meter lange Brücke mit ihrem symmetrischen Querschnitt ist fertiggestellt, die aus der Längsachse abgerückten Lifttürme bei den Enden des beidseitig weit auskragenden Tragwerks stehen auch schon. Was noch fehlt, sind die Treppenstufen, welche den Steg in einer ausladenden Drehbewegung mit dem Strassenniveau verbinden werden. Das bereits Vollendete bot sich vor dem letzten Schritt zur Fertigstellung in einer Deutlichkeit dar, die später nicht mehr vorzufinden sein wird. Alle drei Elemente der Gesamtanalage sind als Stahlkonstruktionen ausgeführt.
Die beiden Stützenpaare des Stegs tragen eine schlichte Konstruktion aus einem Kastenträger, über dem die Fahrbahn verläuft. Für das sich in Längsrichtung verjüngende Tragwerk kam hochfester Baustahl zum Einsatz, die Treppen sind aus Edelstahl. Das selbe Material verwendete man auch für die seitlichen Geländer, über denen Stahlnetze als Wurf- und Springschutz aufgespannt wurden. Um die versetzt angebrachten Geländersprossen spannt sich im Zickzackverlauf ein dichtes Edelstahlgewebe. Es setzt dem Steg eine Krone auf. Unter einer Holzabdeckung der Geländer werden noch lineare Leuchtkörper angebracht. Sie bestrahlen dereinst bei Dämmerung und Dunkelheit die Brüstungen, den Steg und die Personen, die auf ihm wandeln – alles im Einklang mit den Vorgaben des «Plan Lumière» der Stadt Zürich.
Der Negrellisteg bietet, das hat die Besichtigung gezeigt, völlig neue Eindrücke vom Bahnhofsgebiet und der dahinterliegenden Stadtteile. Seine Architektur schlägt sich mit zahlreichen Referenzen auf die Seite der Eisenbahn und wirkt über den Gleisen keineswegs als Fremdkörper. Er erscheint als natürliche Ergänzung der Bahninfrastruktur, obwohl seine Aufgabe eigentlich darin besteht, diese Infrastruktur zu überqueren. Die Zweideutigkeit macht das Warten auf die Annahme des Stegs durch die Öffentlichkeit umso spannender. Auch die Reaktion auf Schwingungen, die auftreten können, dürften noch für Diskussionen oder Unterhaltung sorgen. Schwingungstilger liessen sich bei Bedarf ergänzen, meinte Ingenieur Bronzini. Er hofft, dass dies nicht nötig wird.
Zum Autor:
Manuel Pestalozzi ist dipl. Arch. ETHZ und Journalist BR SFJ.
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