Der lange Weg aufs Jungfraujoch
Das Jungfraujoch ist eine der Top-Tourismusdestinationen der Schweiz. Ideen, das Joch mit einer Bahn zu erschliessen, gehen zurück in die 1860er-Jahre. Aber erst Unternehmer Guyer-Zeller machte Nägel mit Köpfen.
In Grindelwald wird gebaut. Die landesweit berühmt gewordene V-Bahn, die von einem neu gebauten Terminal aus mit 10er-Gondeln den Männlichen und mit 26er-Gondeln die Station Eigergletscher erreicht, ist in Entstehung. Ein Teil davon – die neue Gondelbahn Grindelwald-Männlichen – ging bereits im Dezember 2019 in Betrieb. Und ersetzte ihre Vorgängerbahn, die bei Eröffnung im Jahr 1978 mit einer Gesamtstrecke von 6,2 Kilometer als weltweit längste Personen-Bergbahn galt. An der Bahn zur Station Eigergletscher wird derzeit gebaut. Sie soll im Dezember 2020 eröffnet werden. In der neu gebauten Station werden Reisende künftig direkt in die Jungfraubahn umsteigen – und das Jungfraujoch damit 47 Minuten schneller erreichen.
108 Jahre vorher, am 1. August 1912 fuhr ein festlich geschmückter Zug von der Kleinen Scheidegg hoch zum Jungfraujoch. Im Zug sass eine Schar Gäste, die zur Jungfernfahrt der Jungfraubahn geladen waren. Zwölf Jahre nach dem ersten Spatenstich war dies die erste Fahrt auf der voll ausgebauten Jungfraustrecke.
Frühe Fantasien
Die Idee, die Jungfrau mit einer Bahn zu erschliessen, war zu jener Zeit schon ein paar Jahrzehnte alt. Ende der 1860er-Jahre war Friedrich Seiler der Erste, der ein entsprechendes Projekt vorschlug. Seine Bahn sollte allerdings nicht zum Joch oder zum Jungfraugipfel führen, sondern zum Rottal, von wo aus ein gesicherter Bergweg die Besucher weiter hoch geleiten sollte.
20 Jahre später kam es gewissermassen zu einem Projekt-Dreiklang: Mehr oder weniger zur selben Zeit präsentierten der Zürcher Ingenieur Maurice Köchlin, sein Aargauer Kollege Alexander Trautweiler sowie Ingenieur Eduard Locher je einen individuellen Vorschlag. Ein Versuch des Bundesrats, die drei Projekte unter den Hut einer einzigen Konzession zu bringen, scheiterte, worauf Köchlins Projekt von Behördenseite grünes Licht erhielt. Dieses aber hob aus finanziellen Gründen nie ab. 1893 wurde es mit dem Auftritt des Berner Unternehmers Adolf Guyer-Zeller schliesslich handfest. Guyer-Zeller hatte von seinem Vater eine Baumwollspinnerei übernommen und betrieb einen internationalen Textilhandel, bevor er sich dem Eisenbahnbau zuwandte. In einem historischen Beschrieb der Jungfraubahnen Management AG wird geschildert, wie der Unternehmer quasi von der Idee einer Jungfraubahn überfallen wurde: «Es ist Sonntag, der 27. August 1893. Der 54-jährige Schweizer Unternehmer Adolf Guyer-Zeller wandert mit seiner Tochter oberhalb von Mürren. Sein Blick schweift übers Lauterbrunnental auf Eiger, Mönch und Jungfrau, als er den Zug der brandneuen Wengernalpbahn in Richtung Kleine Scheidegg fahren sieht. Plötzlich geht ihm ein Licht auf. Noch vor Ort fasst er den Entschluss, von der Kleinen Scheidegg aus eine Bahn auf die Jungfrau zu bauen. Im Zimmer 42 des Kurhauses Mürren skizziert er nachts die Linienführung der künftigen Jungfraubahn auf einem Blatt Papier. Das Geniale daran: Seine Bahn beginnt nicht in Lauterbrunnen, sondern bei der Kulmstation der Wengernalpbahn auf der Kleinen Scheidegg, 2064 m ü. M.»
Nägel mit Köpfen
Guyer-Zeller beliess es nicht bei Fantasien, er schritt zur Tat. Vier Monate nach der Wanderung mit seiner Tochter reichte er ein Konzessionsgesuch beim Bundesrat ein. Sein Projekt sah eine Bahn mit mehreren Abschnitten vor, die nicht nur etappenweise gebaut, sondern sogar etappenweise eröffnet werden konnten, was aus wirtschaftlicher Sicht Vorteile versprach. Im ersten Abschnitt bis zum Eigergletscher sollte die Zahnradbahn oberirdisch gebaut werden, bevor sie in den Tunnel einfuhr, der schliesslich zu den Stationen Eigerwand, Eismeer und Jungfraujoch führen sollte. Guyer-Zeller erhielt die Konzession für sein Vorhaben.
Im Juli 1896 starteten mit dem ersten Spatenstich die Bauarbeiten der ersten Etappe. Die offene Strecke von der Kleinen Scheidegg zur Station Eigergletscher wurde rein in Handarbeit erstellt. «Ein Streckenstück, das den meist italienischen Bauarbeitern viel abverlangt: Maschinen gibt es keine. Schaufel, Pickel und Muskelkraft sind die einzigen Arbeitsgeräte», heisst es im Beitrag der Jungfraubahnen. Die Arbeiter schufteten zwei Jahre lang, bevor im September 1898 die erste Jungfrau-Teilstrecke mit einem pompösen Fest eröffnet werden konnte.
Während die edlen Gäste das Erlebnis der ersten Teilstrecke geniessen konnten, ging weiter oben der Sprengvortrieb los. In drei Schichten kämpften die Arbeiter gegen den Fels. Ruhe fanden sie in einer Kolonie, die neben der Station Eigergletscher erstellt wurde.
Patron stirbt, Projekt lebt
Obwohl für die Tunnelarbeiten bereits bessere Gerätschaften zur Verfügung standen, geriet das Projekt alsbald ins Stocken. Unternehmer Guyer-Zeller starb im April 1899 an den Folgen einer Lungenentzündung. Seine Nachkommen waren zwar gewillt, sein Vorhaben weiterzuführen, finanziell geriet das Projekt jedoch in Schieflage, die nur durch Bankkredite ausgeglichen werden konnte. Erschwert durch diesen Einschnitt, dauerte es bis im Juni 1903, dass die zweite Etappe zwischen Eigergletscher und Eigerwand dem Betrieb übergeben werden konnte. Die darauffolgende Wegstrecke zum Eismeer gelang im Vergleich dazu zügig. Sie wurde im Juli 1905 eröffnet, wodurch zur Vollendung der Bahn nur noch eine Etappe fehlte – zum Joch. Wobei das eigentlich nicht Guyer-Zellers erster Absicht entsprach. Ihm schwebte ein Anschluss bis hoch auf den Jungfraugipfel vor. Aus wirtschaftlichen Gründen verzichteten seine Nachkommen darauf – und beschränkten sich mit dem heute weltberühmten Jungfraujoch.
Dieses erreichten die Arbeiter im Februar 1912, als der letzte Durchbruch gelang. Auch auf dieser Etappe hatten sie mit geologischen Schwierigkeiten zu kämpfen – sowie mit persönlichen. Die Bauleitung hätte nämlich jener Baugruppe eine Prämie versprochen, die den Durschlag schafft. Das beschleunigte zwar den Fortschritt, führte aber zugleich zu riskanten Bau- und Sprengmanövern.
Ende Juli 1912 erteilte der Bundesrat die Betriebsbewilligung für die nun komplette Bahn aufs Jungfraujoch. Drei Tage später fuhr jener festlich geschmückte Zug mit einer Schar geladener Gäste von der Kleinen Scheidegg hoch zum Joch.