Holzwolle für Durchfluss im Gletscher

Für einen verbesserten Abfluss der Seeentleerung durch das Gletschereis wurde eine natürlich abbaubare Variante erfolgreich getestet. Als Pionierlösung wurden Rohre aus Holzwolle-Rollen im Eis eingebaut. Messungen und Untersuchungen zeigten, dass diese auch im Schmelzwasser intakt blieben.

In den Berner Alpen zwischen Lenk (BE) und Crans-Montana (VS) liegt die Plaine Morte, der grösste Plateaugletscher der Alpen. Kennzeichnend für Plateau­gletscher ist die grosse horizontale, kappenartige Ausdehnung der Eismassen, wodurch die Rissbildung und die Fliessge­schwindigkeit im Eis viel kleiner sind als bei Talgletschern. Die Entwässerung der grossen Geländemulde der Plaine Morte hat sich in den letzten Jahrzehnten durch den Klimawandel grundlegend verändert. Der Abfluss erfolgt heute vorwiegend in Richtung Berner Oberland. Das sommerliche Schmelzwasser sammelt sich zudem seit mehreren Jahren lokal in Gletscherrandseen, wovon der grösste Faverges heisst und im Südosten der Plaine Morte liegt (Abbildung 1).

Abrupte Entleerungen des Sees Faverges haben in den letzten Jahren in Lenk wiederholt zu Überflutungen geführt. Der jährlich grösser werdende See entleert sich seit 2011 jeden Sommer subglazial in Richtung Lenk. 2018 erreichte der Abfluss während der Seeentleerung das Ausmass eines 300-jährlichen Hochwassers. Schäden im Siedlungsgebiet und ein massiver Systemwechsel im Geschiebehaushalt des Gerinnes waren die Folge. Als Sofortmassnahmen wurden Stabilisierungs­arbeiten am Gerinne vorgenommen. Gemäss glaziologischen Prognosen ist bis 2050 mit einer weiteren Zunahme des Seevolumens und der Abflussspitzen zu rechnen.

Zum Schutz des Dorfes wurden verschiedene Schutzmassnahmen im Talboden und am Gletscher evaluiert. Im Frühling 2019 wurde schliesslich ein künstlicher Entwässerungskanal im Eis realisiert – die einzig sinnvolle und zeitlich mögliche Massnahme. Dank diesem Eiskanal konnte das Seevolumen 2019 reduziert und der See schadenfrei abgeleitet werden. Bei der Analyse der Langzeit­wirkung des Kanals bestanden aber viele Unsicherheiten. Es fehlten Erfahrungswerte, um die neue Situation zu beurteilen. Der endgültigen Öffnung des Kanals und damit dem erneuten Ausfluss des Sees im Frühjahr 2020 durch den Kanal ging eine Reihe von ad-hoc Analysen, improvisierten Interventionen und Massnahmen voraus.

Interventionsmassnahmen 2020
Zuerst wurde deshalb im Frühjahr 2020 die Wasserspiegellage im Kanal durch Heissdampf­­bohrungen und Lichtlot­­messungen eruiert. Ein Ausschnitt aus dem Längsprofil ist in Abbildung 2 ersichtlich. Es zeigte sich, dass der Abfluss im schneeverfüllten, bis 15 Meter tiefen Eiskanal viel geringer war als angenommen, da einerseits im Kanal Temperaturen von etwa Null Grad Celsius herrschten und somit der Tauprozess weniger stark einsetzte als erwartet. Andererseits war das seitliche Einzugsgebiet des künstlichen Kanals an der Gletscheroberfläche zu klein, um grössere Schmelzwasser­ansammlungen in den Kanal zu führen. Die Durchsickerungs­geschwindigkeit des Wassers durch den Schnee im Eiskanal war denn auch zu gering.

Aus diesem Grund wurden diverse Interventions­massnahmen abgeklärt, getestet oder durchgeführt, welche alle zum Ziel hatten, dem ansteigenden Seespiegel entgegenzuwirken und den Eiskanal für den erneuten Seeabfluss vorzubereiten. Schliesslich entfernte man während drei Tagen den Schnee im Kanal soweit möglich mit einem Schreitbagger. Anschliessend wurde der Hochpunkt im ausgehobenen Schneekanal mit Hilfe eines Wasserwerfers der Feuerwehr abermals um einen halben Meter abgesenkt. Diese Massnahmen führten zum Erfolg. Das Seewasser sickerte durch den Kanal, im Tal entstanden keine Schäden.

Zusätzliche Massnahmen für die Seeentleerung 2021
Im Herbst 2020 evaluierte man schliesslich zusätzliche Massnahmen, um für die Seeentleerung 2021 bestmögliche Abflussbedingungen zu schaffen. Es folgte ein Variantenstudium. Dabei wurde davon ausgegangen, dass bei der Seeentleerung die hohlraum­bildende Konstruktion ganz oder teilweise unterhöhlt oder abgeschwemmt wird. Um einer Vermüllung vorzubeugen, bevorzugte man deshalb natürliche und abbaubare Baustoffe, welche den Wasserleit-Effekt begünstigen.

Eine der Varianten, welche schlussendlich umgesetzt wurde, sah die Verlegung von Holzwollerohren in den Eiskanal vor. Das System basiert auf der Bildung eines Abfluss­querschnittes mit geringerem Fliesswiderstand als der umgebende Schnee. Das Produkt lieferte der Produzent Lindner Suisse GmbH in Wattwil. Die Rohre wurden aus Holzwollevliesen (Howolis) hergestellt. Diese wurden zu Rohrleitungen gewickelt und durch Auflockerungs­massnahmen weiter optimiert, so dass ihre Durchlässigkeit dem Bedarf des Projektes entsprochen hat. Die Durchlässigkeit der verschiedenen Wicklungsarten wurden mittels Laboranalysen bestimmt, die ermittelten k-Werte sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Geprüft wurde nur die Durchlässigkeit der Holzwolle. Um eine zusätzliche Reserve einzubauen, wurde die aufgelockerte Holzwolle auf ein Kartonrohr mit Innendurchmesser 140 Millimeter aufgewickelt. Die Auflockerung der Holzwollevliese hatte eine Zunahme des Holzwollequerschnittes von durchschnittlich 260 Prozent zur Folge. Der Einbau erfolgte im Eiskanal über die gesamte Länge von 540 Meter. Die Stösse zwischen den Rollen wurden dabei mit Howolis überdeckt. Abbildung 3 zeigt die Verlegung der Holzwollerohre im Eiskanal im Bereich des Hochpunktes, bevor diese mit Howolis überdeckt wurden.

Der Entscheid für die Variante mit Holzwolle wurde auf Grund der optimalen Handhabbarkeit gefällt. Die Rohre wurden verschiedenen Falltests aus bis zu zehn Meter Höhe unterzogen, welche sie jeweils unbeschadet überstanden. Zudem war nur der Einbau der kompakten Holzwollerohre mit einer Länge von 2,4 Meter und einem Gewicht von etwa 60 bis 70 Kilogramm im hüfthohen Neuschnee im Eiskanal überhaupt durchführbar.

Kontrollgang nach Wärmeeinbruch
Nach Einbau der Rollen bestimmte ein Wärmeeinbruch zwei Wochen lang das Wetter auf der Plaine Morte. Das Tauwetter führte zu erneutem Schmelzwasserfluss, was im Kanal zu einem lokalen Anstieg des Wasserspiegels führte. Die Holzwolle-Rollen waren so teilweise im Wasser und gefrierten bei der nächsten Kälte. Es wurde angenommen, dass die betroffenen Holzwollerohre zumindest teilweise undurchlässig und somit unbrauchbar geworden sind.

Ein Augenschein vor Ort hat allerdings aufgezeigt, dass die Befürchtungen unbegründet waren. Die Holzwolle-Rollen waren zwar teilweise im Wasser und entsprechend mit einer 20 Zentimeter dicken Eisschicht bedeckt. Eine aufgeschnittene Rolle zeigte aber trotzdem ein intaktes Kartonrohr. Nur die äussersten Schichten der Rolle waren vereist, diejenigen im Zentrum hingegen nicht (Abbildung 4). Des Weiteren belegte ein Feldtest, dass die Durchlässigkeit nach wie vor gegeben war. Vielerorts waren die Rollen lediglich von Schnee bedeckt und nicht gefroren.

Es bleibt abzuwarten, in welchem Zustand die Holzwolle-Rollen im Frühjahr 2021 sind und ob sie ihre zugeteilte Aufgabe meisterten. Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass jeder Schritt dieser durchgeführten Arbeiten Pioniercharakter hat und entsprechend viel über das System Gletscher wie auch über die Holzwolle als Baustoff gelernt werden kann.

Abbildung 2: Ausschnitt Längsprofil mit Sickerlinie im Juli 2020 im schneegefüllten Eiskanal. Abbildung 3 (Einstiegsbild): Im Eiskanal verlegte Holzwollerohre, noch nicht mit Holzwollevlies überdeckt.

Autorenhinweise
• Fachhochschule Graubünden, Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR), Chur, Schweiz: Seraina Braun-Badertscher, Imad Lifa
• Theiler Ingenieure AG, Zweisimmen, Schweiz:  David Hodel
• Geotest, Schweiz: Daniel Tobler


Tabelle 1


Abbildung 1: Kartenausschnitt Plaine Morte.

 


Abbildung 4: Geöffnete Rolle beim Kontrollgang.

 

Text und Blder: FHGR

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