Kleines Haus wirft grosse Fragen auf
Gebäude, die sich selbst besitzen und verwalten: Diese Idee des Thinktanks Dezentrum wurde an der ETH Zürich erstmals prototypisch verwirklicht. Resultat ist eine Meditationskabine, die gewohnte ökonomische und gesellschaftliche Vorstellungen ins Wanken bringt.


Text: Leo Herrmann | Fotos: ETH Zürich
Bereits die äussere Erscheinung der kleinen prismaförmigen Hütte im neu eröffneten Student Project House auf dem ETHCampus Zentrum vermag Betrachterinnen und Betrachter neugierig zu machen. Sie ist mit LED-Lichtern geschmückt, mit einem Solarpanel verbunden und hat im Inneren bequeme Sitze zum Meditieren. Die visionäre Idee, die der Holzkonstruktion zugrunde liegt, lässt sich auf den ersten Blick jedoch kaum erahnen. «Die Vision ist mächtig», ist Hongyang Wang überzeugt. «Sie berührt alle Bereiche der Gesellschaft und stellt viele unserer grundlegenden Vorstellungen auf den Kopf», sagt Hongyang Wang, die schon als Masterstudentin an diesem Projekt arbeitete. Derzeit ist sie Doktorandin an der Professur für innovatives und industrielles Bauen, die sich unter anderem mit neuen Technologien, Governance-Strategien und Organisationsmodellen für Bauprozesse befasst.
Die erwähnte Vision sei entweder eine sehr kleine oder eine sehr grosse, führt Hongyang Wang aus. Die kleine Vision könnte so aussehen wie die Hütte im Student Project House. Die solarbetriebene Meditationskabine funktioniert autonom, und jeder und jede kann sie online für eine bestimmte Zeit mieten, um darin zu meditieren. Einlass gewährt der Pod automatisch nach dem Vorzeigen eines QRCodes. Das ist praktisch. Die grosse Vision beginnt eine Ebene über dem unmittelbaren Raumerlebnis bei der Funktionsund Organisationsweise der Hütte. Der Name des Projekts, No1s1 (ausgesprochen wie «no one’s one»), gibt den ersten Hinweis: Der Meditationsraum ist ein Prototyp für ein Haus, das niemandem gehört. Er verwaltet und vermietet sich selbst. Die Einnahmen sollen künftig in Form der Kryptowährung Ethereum erfolgen – die momentane Testversion kostet kein echtes Geld – und auf ein Konto (Wallet) fliessen, das vom Haus selbst kontrolliert wird. In der Theorie könnte es nicht nur im Schadensfall selbst einen Handwerker rufen, sondern sich sogar rechtlich selbst besitzen. Ermöglichen soll das eine sogenannte dezentralisierte autonome Organisation (DAO), die mit dem Haus verbunden ist.
Eine Infrastruktur wie ein natürliches Ökosystem
Die Organisation dieser computergestützten Selbstverwaltung basiert auf der Blockchain-Technologie. Diese verspricht ein enormes Dezentralisierungspotenzial: Die Blockchain erlaubt es, Verträge abzuschliessen, ohne dass eine zentrale, möglichst vertrauenswürdige Instanz wie eine Bank oder Regierung dafür bürgen muss (auch Kryptowährungen beruhen auf dieser Idee und Technologie). So kann sich eine grosse Zahl von Menschen – oder digitalen Systemen – zu einem bestimmten Zweck koordinieren, ohne dass hierarchische Strukturen und menschliche Vermittlung erforderlich wären. Diese «Smart Contracts» bilden die Grundlage für die DAO,
die den Meditationspod betreibt. Menschen können sich darin organisieren und nach demokratischen Prinzipien unter anderem die Regeln in den Verträgen ändern – einen menschlichen Besitzer braucht die Struktur deswegen nicht. Die Weiterentwicklung der Regeln könnte zudem theoretisch eine künstliche Intelligenz (mit-)übernehmen. Solche autonomen Organisationsformen könnten je nach Entwicklung dereinst herkömmlichen Unternehmen rechtlich gleichgestellt sein.
Noch ist das nicht die Realität. Vielmehr zeigt sich darin die Tragweite der Idee: No1s1 als alternatives Modell für Immobilien und Infrastruktur. Die Technologie sei dafür noch nicht reif, betont Hongyang Wang, und No1s1 sei weltweit das erste ihr bekannte Projekt, das eine DAO mit einem physischen Objekt verbinde. Das Potenzial erklärt sie wie folgt: «Wenn Immobilien keine menschlichen Besitzerinnen oder Besitzer haben, entfallen durch die automatisierte Koordination hohe administrative Kosten. Vor allem aber muss das Modell nicht profitabel sein.» Allfällige Überschüsse könnten in den Unterhalt der Bauten oder an die Nutzenden zurückfliessen.
Keine Antwort, sondern eine Diskussionsgrundlage
No1s1 kam als Idee des Zürcher Thinktanks Dezentrum an die ETH. Mit Unterstützung der Projektpartner Digitec und Ernst & Young erarbeitete Hongyang Wang zusammen mit ihrem Betreuer Jens Hunhevicz daraus ihre Masterarbeit sowie ein Conference-Paper. Das Haus markiert, gemessen an seiner Vision, den ersten Schritt einer langen Reise. «Das Projekt wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet, und das war auch das Ziel», sagt Daniel Hall. Betroffen ist die Technologie: Wie lässt sich zum Beispiel eine DAO so programmieren, dass sie für eine Gruppe von Menschen in einem demokratischen Prozess veränderbar, aber von niemandem manipulierbar ist? Die wohl noch komplexeren Fragen sind jedoch gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Natur: Wer finanziert zum Beispiel ein Bauprojekt für ein Haus, das sich selbst gehört? Und wer soll alles an der DAO eines bestimmten Gebäudes mitwirken können?
Ihren Fokus im weiteren Projektverlauf legen Hongyang Wang und Daniel Hall auf die Nutzung des Objekts und die Regeln einer solchen dezentralen Organisation. «Mit dem Prototyp möchten wir herausfinden, wie das Haus genutzt wird und welche Bedürfnisse die Nutzerinnen und Nutzer künftig haben werden», so Daniel Hall. Dafür sei es ideal, dass das Haus im neuen Student Project House stehe und breit zugänglich sei. Der Zweck des Meditationsraums eigne sich gut für einen Prototyp, weil seine Nutzung vergleichsweise einfach sei. Hongyang Wang, die selbst gern meditiert, sieht darin ein Symbol: «Die Meditation hat mich gelehrt, wie ähnlich sich Menschen im Innersten sind, dass alle ein Potenzial haben und den gleichen Respekt verdienen.» Nicht zuletzt deshalb, sagt sie, möchte sie mit ihrer Forschung Wege finden, um die Welt mittels Technologie ein bisschen fairer zu machen. ||