Eine Norm, mit der Inklusion gelingt
Recycling ist schon lange ein weltweites Business. In Entwicklungsländern spielt sich dieses Geschäft im informellen Sektor ab. Eine neue Norm ISO 59014 soll eine Brücke zwischen informellem sowie formellem Sektor schaffen.
Die zu entwickelnde Norm ISO 59014 schafft eine Brücke zwischen informellem sowie formellem Sektor und verbessert dadurch die Lebensqualität vieler Arbeiterinnen und Arbeiter rund um den Globus. Sonia Valdivia, Convenor der ISO-Arbeitsgruppe 59014, beantwortet Fragen aus der Welt des Recyclings und zur neuen Norm.
Sind alle Länder an der Recycling-Wertschöpfungskette beteiligt?
Es gibt keine einfache Klassifizierung. Tendenziell ist es jedoch so, dass ärmere Länder besser organisiert sind im Einsammeln der Stoffe und industrialisierte Nationen über eine adäquatere Infrastruktur für das Recycling verfügen. Alles in allem sprechen wir von einer komplexen globalen Wertschöpfungskette, in denen alle Teilbereiche funktionieren müssen. Die Herausforderung ist, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Entwicklungsländer sollen mehr Teilschritte auf eine sichere und gesundheitsbewusste Art bewirtschaften können. Recycling ohne Sammlung ist so wenig wertvoll wie Sammlung ohne Recycling.
Was hat Recycling mit sozialer Gerechtigkeit zu tun?
Je nach Rohstoff werden bis zu 90 Prozent der Abfallmaterialien von Mitarbeitenden des informellen Sektors gesammelt. Es sind Personen, für die die Abfallsammlung die Haupteinkommensquelle darstellt und die keine Lobby haben. Nicht selten ist die Sammlung mit gesundheitlichen Risiken verbunden. Sozial gerecht ist es, wenn diese Menschen rechtlich anerkannt werden und einen fairen Zugang zum formellen Sektor erhalten. Schliesslich sind sie diejenigen, die unserer Konsumgesellschaft hinterherräumen und Wiederaufbereitung dadurch erst möglich machen. Die Norm «ISO/CD 59014 secondary materials – Principles, sustainability and traceability requirements» schafft Gerechtigkeit zwischen den Interessensgruppen. Glücklicherweise ist heutzutage das Verständnis für die Kreislaufwirtschaft weit verbreitet. So arbeiten interdisziplinäre Teams von Expertinnen und Experten aus der Psychologie, Ökonomie, Sozialwissenschaft oder auch Juristerei effektiv zusammen.
Der Vorgänger dieser neuen Norm ist ein sogenanntes ISO Workshop Agreement. Was ist das genau?
Das ISO IWA (International Workshop Agreement) 19:2017 «Guidance Principles for the Sustainable Management of Secondary Metals» besteht seit 2017. Entstanden aus der Zusammenarbeit zwischen dem «SRI Sustainable Recycling Industries Program» und der SNV, basiert es auf mehr als zwölf Jahren Erfahrung in Partnerländern wie Ghana, Südafrika, Peru, Ägypten und Kolumbien. Der Fokus lag damals auf der Sammlung und Wiederverwertung von Metallen und der Förderung der Inklusion. Der informelle Sektor ist schwierig zu fassen und offizielle Zahlen gibt es kaum. Dank der Aktivitäten des SRI Program können sich Abfallsammler in Ghana registrieren und erhalten eine Identifikationsnummer. Diese Nummer ist ihr Zugang zum formellen Sektor und erlaubt ihnen als registrierter Lieferant, gesammeltes Material an die Recyclingunternehmen zu verkaufen. Das mag nach einer unscheinbaren Verbesserung klingen, ist aber ein Schritt mit weitreichenden Folgen für die bis anhin nicht anerkannten Arbeitenden. Das ISO IWA wird nun in einer zweiten Phase in eine offizielle ISO-Norm überführt. Sie soll insbesondere sicherstellen, dass Nachhaltigkeitsaspekte des Sekundärmaterialmanagements (Sammlung, Recycling und Entsorgung) von Kleinst-, Klein- und Mittelbetrieben berücksichtigt werden. In Entwicklungsländern leben Abfallsammler meistens an der Armutsgrenze und verdienen sich mit dieser Arbeit ihren Lebensunterhalt.
Wie ist die Arbeitsgruppe organisiert?
Die Schweiz und Mauritius sind die führenden Länder der Arbeitsgruppe, die im Mai 2021 ihre Arbeit aufgenommen hat. In den letzten zwei Jahren ist der Normenentwurf in 12 Sitzungen ausgearbeitet worden. Dabei gab es viele Diskussionen, die teilweise sehr technisch und sehr präzise geführt wurden. Dieser Prozess ist sehr bereichernd und alle Beteiligten lernen viel voneinander. 50 Länder sind als Mitglieder dabei, davon sind 25 stark aktiv. Alle Regionen und Kontinente sind vertreten. Die Schweizerische Normen-Vereinigung SNV übernimmt das Sekretariat. Intensiv sind vor allem die Sitzungsvorbereitungen, um die ISO-Arbeitsgruppe später so effektiv wie möglich arbeiten zu lassen. Der formelle Sektor ist in die Ausgestaltung der Norm einbezogen. Schrottrecyclingfirmen oder beispielsweise auch IKEA sind prominent vertreten. Sie untersuchen im Detail, wie die Norm den Kreislauf ihrer Materialien verbessern kann.
In welchem Stadium befindet sich die Norm?
Der Komitee-Entwurf (CD) ist abgeschlossen. Die Mitgliedsländer diskutieren die eingereichten Kommentare und arbeiten diese ein. In dieser Phase wird kein neuer Inhalt mehr entwickelt. Die Norm ist auf der Schlussgeraden, damit abschliessende Fassung – der Draft International Standard (DIS) – noch dieses Jahr steht und 2024 erscheinen kann. Auf rund 15 Seiten sind Anforderungen und Leitlinien für die Sammlung sowie Wiederaufbereitung von Sekundärmaterialien konsolidiert. Die Inhalte werden immer auf Englisch entwickelt und später bei Interesse von den Ländern in ihre eigene Sprache übersetzt. Dies spart einerseits Kosten und nimmt anderseits Rücksicht auf lokale sprachliche Eigenheiten. So verwendet Brasilien beispielsweise nicht den Ausdruck «Collection», sondern die Bezeichnung «Reverse Logistic».
Abfallsammeln kann Kinder betreffen. Wie schützt die Norm die Schwächsten in der Kette?
Hier gilt es, klar zwei unterschiedliche Konzepte zu unterscheiden. Kinderarbeit, sprich «child labour» ist nicht verhandelbar und wird in der Norm explizit ausgeschlossen. Kein Kind soll wegen Arbeit auf Bildung verzichten oder sogar seine Gesundheit aufs Spiel setzen. Gleichzeitig ist es in den Entwicklungsländern Usanz, dass Kinder mitarbeiten müssen, um das Überleben der Familie zu sichern. Ist diese Arbeit altersgerecht, vereinbar mit dem Stundenplan in der Schule und nicht gesundheitsgefährdend, dann wird sie von der ILO (International Labour Organisation) toleriert und in der Norm nicht ausgeschlossen. In diesem Fall sprechen wir von «working children». Für diese Zielgruppe formuliert die ISO-Norm ebenfalls Leitsätze.
Wie schützt die ISO-Norm die Gesundheit der Arbeitenden?
Nebst der Kinderarbeit ist auch die Gesundheit nicht verhandelbar. Dies ist besonders dann wichtig, wenn es um kontaminierte Produkte, Teile oder Materialen geht. Die Norm äussert sich klar dazu, wie diese von Anfang an zu identifizieren, zu separieren und zu lagern sind. Ganz allgemein fördert die ISO-Norm Systemdenken. Dank einem ganzheitlichen Ansatz werden in der Umsetzung die Konsequenzen aktueller und potenzieller Entscheidungen bezüglich der Umwelt, der Gesellschaft, der Gesundheit oder der Wirtschaft kritischer und nachhaltiger betrachtet.
Diese Norm stellt erst einen Anfang dar, welche weiteren Schritte sind geplant?
Der derzeitige Inhalt ist bewusst generisch, so dass er in vielen Industrien anwendbar ist. Ein nächster Schritt wird sein, sektorspezifische Richtlinien zu erstellen. Weiter wird das SRI in Südafrika mit einer Recyclingfirma ein Pilotprojekt aufnehmen, das die ISO-Norm in die Praxis umsetzt. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse fliessen wiederum in die weitere Normungsarbeit ein. Das Interesse an der Norm ist bereits gross. Es beweist, dass konsequent angewandte Regelwerke einen positiven Einfluss auf die Entwicklung einer Industrie oder eines Landes haben und dass viele Marktakteure ihre Verantwortung ernst nehmen.
Wer profitiert von der neuen Norm?
Die neue Norm wird auf die ganze globale Wertschöpfungskette anwendbar sein und ist somit für alle Marktteilnehmenden ein Gewinn. Alle Industrien profitieren von ihr, von der Produktionsfirma bis zu den Banken, Regierungen oder Sponsoren, die die Norm als Basis für eine Due Diligence verwenden können. Am meisten jedoch werden jene Arbeitenden in der Abfallkette profitieren, die unter der Armutsgrenze leben. Denn dank der Anwendung der Norm erhalten sie mehr Wertschätzung, Rechtssicherheit sowie den Zugang zu einem bis heute grösstenteils verschlossenen System.
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