Die Fassade als Kraftwerk und Wohlfühlgarant
Wer sich den grössten Teil des Tages im Innern von Gebäuden aufhält, sehnt sich nach einer angenehmen Wohn- und Arbeitsatmosphäre.
Ähnlich einem Schmetterlingsflügel schimmert die grün-blaue Fassade der NEST-Unit «SolAce» im Sonnenlicht. Seit Ende September 2018 ist der neueste temporäre Gebäudeteil des Forschungs- und Innovationsgebäudes der Empa und Eawag in Dübendorf offiziell eröffnet. Es handelt sich um kombinierte Wohn und Arbeitsräume auf knapp 100 Quadratmetern – eingebaut auf der Südseite von NEST zwischen der zweiten und dritten Betonplattform, die zum Kern des setzkastenähnlichen Gebäudes gehören. «‹SolAce› soll über die Fassade mehr Energie produzieren als die Unit im Jahresverlauf braucht und gleichzeitig den Benutzerinnen und Benutzern optimalen Komfort zur Verfügung stellen», erklärt Jean-Louis Scartezzini die Zielvorgabe. Der EPFL-Forscher ist Direktor des Labors für Sonnenenergie und Bauphysik; von ihm stammt die Idee zur neusten NEST-Unit. Zur Erreichung der genannten Ziele vereinen die Forschenden mehrere aktive und passive Fassadenelemente, deren zugrunde liegende Technologien aus dem Labor in Lausanne hervorgegangen sind. Einige dieser Technologien sind mittlerweile über Start-ups und durch Kooperationen mit Wirtschaftspartnern kurz vor der Kommerzialisierung, bei einigen dauert der Weg noch etwas länger. «Im NEST haben wir die einzigartige Möglichkeit, die verschiedenen Technologien im Zusammenspiel und in einer realen Umgebung zu untersuchen», sagt Scartezzini.
Solarstrom und Warmwasser aus der Fassade
Die positive Energiebilanz der Unit soll durch die Produktion von Solarstrom und Warmwasser direkt an der Fassade erreicht werden. Dazu kommen Photovoltaikmodule sowie solarthermische Kollektoren mit einer neuartigen farbigen Verglasung auf Basis von Nanotechnologie zum Einsatz. Mit dem Ziel, die Integration von Photovoltaikanlagen in die Gebäudehülle zu fördern, indem über verschiedene Farben eine grössere architektonische Freiheit geboten wird, forschte ein Team an der EPFL seit fast 20 Jahren an farbgebenden Beschichtungen. Den Forschern unter der Leitung von Andreas Schüler war klar, dass eine Beschichtung möglichst geringe Energieverluste verursachen darf. Absorbierende Farbpigmente kamen nicht infrage. Stattdessen rufen nun Nano-Dünnschichten mit einer Dicke von 5 bis 200 Nanometern auf der Innenseite der Verglasung sogenannte Interferenz-Farbeffekte hervor, wie sie etwa auch auf einer Seifenblase oder eben auf den Flügeln eines Schmetterlings auftreten. «Da die Nano-Beschichtung sehr transparent ist, entstehen praktisch keine Absorptionseffekte und nur sehr geringe Energieeinbussen », erklärt Schüler. Diese inzwischen patentierte Technologie wird zurzeit vom Spin-off «Swiss-INSO» zur Marktreife gebracht und kommt im NEST in einer grün-blauen Variante zur Anwendung.
Neuartige Sensoren zur Überwachung von Wohlfühlfaktoren
Neben Arbeitsplätzen für vier Personen bietet «SolAce» auch einen Wohnbereich mit Küche und Schlafmöglichkeiten für zwei Personen. Um das Versprechen von optimalem Komfort einzulösen, versuchen die Forschenden die individuelle Wahrnehmung der Nutzer mithilfe eines neuartigen Vision-Sensorsystem nachzuempfinden. Die prototypischen Sensoren messen aus der Sicht der Benutzer – zum Beispiel einer arbeitenden Person am Schreibtisch – die Beleuchtungsverhältnisse und die Blendeffekte. Die Echtzeit-Überwachung wird dazu genutzt, die Beleuchtungs- und Beschattungssysteme optimal zu steuern. Wird also ein bestimmter Blendwert überschritten, reagieren die geschwungenen Lamellenstoren und leiten die eindringenden Lichtstrahlen an die Decke. Mithilfe von zirkadianer Beleuchtung sollen die Bewohner und Benutzer der Unit «SolAce» zudem in ihren Leistungs-, aber auch in ihren Erholungsphasen unterstützt werden. Zirkadiane Beleuchtung simuliert das Sonnenlicht im Tagesverlauf und fördert damit den natürlichen Wach-Schlaf-Rhythmus.
Saisonal dynamische Scheiben mit integrierten Mikrospiegeln
Innovative Fenstergläser sollen einen zusätzlichen Beitrag zu einem behaglichen Wohnund Arbeitsklima leisten – vor allem aber dazu führen, dass der Energieverbrauch für die Heizung im Winter und für die Kühlung im Sommer geringer wird. Für das menschliche Auge unsichtbare Mikrospiegel in einem Polymer-Film im Innern der Gläser lenken im Winter das hochwillkommene Licht für eine gleichmässige Ausleuchtung an die Decke im Innern der Unit und sorgen damit auch für ein natürliches Aufwärmen der Räume. Im Sommer sorgen die gleichen Spiegel dafür, dass die Sonnenstrahlen von den Gläsern abgelenkt werden und sich die Räume nicht zusätzlich aufheizen. Die neuartige Verglasung wurde an der EPFL ebenfalls unter der Leitung von Andreas Schüler entwickelt. Für die Herstellung erster Prototypen nutzten die Forschenden einen Präzisionslaser der Empa in Thun. Mittlerweile arbeitet das Team zusammen mit BASF Schweiz an einem industriellen Herstellungsprozess. Sobald erste Fenstergläser verfügbar sind, sollen diese in die «SolAce»-Fassade eingebaut werden. Der Sehkomfort der neuen Gläser wird dann von Forschenden des EPFL-Labors für Leistungsintegriertes Design vor Ort gemessen. Bis es so weit ist, kommen Referenzscheiben zum Einsatz, die Vergleichswerte liefern werden.
Alltagstauglichkeit in einer bewohnten Umgebung unter Beweis stellen
Wie im NEST üblich, wird auch die Unit «SolAce» real genutzt und bewohnt werden. In einer ersten Phase werden sich hauptsächlich EPFL-Forschende in den Räumen aufhalten und die installierten Systeme und Technologien überwachen und an die Gegebenheiten anpassen. «Danach werden wir die Unit als Wohn- und Arbeitsumgebung für Gäste der Empa nutzen», sagt Rico Marchesi, Innovationsmanager im NEST. Er freut sich über den Neuzugang im Forschungs- und Innovationsgebäude und ist überzeugt, dass «SolAce» einen wertvollen Beitrag zur zukünftigen Ausgestalltung von Gebäudehüllen leisten kann. «Ästhetische Vorbehalte gegenüber dem Einsatz von Photovoltaik an der Fassade gelten dank der hier gezeigten Farbverglasungen definitiv nicht mehr», meint er. Für Jean-Louis Scartezzini ist das Projekt bereits jetzt ein Erfolg: «Die enge Zusammenarbeit zwischen Forschenden und Industriepartnern, aber auch zwischen den Industriepartnern untereinander führte immer wieder zu überraschenden Ideen und zu einem wertvollen Austausch.» Auch der Architekt der Unit, Fabrice Macherel von Lutz Architectes aus Fribourg, empfand die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Wirtschaft als äusserst bereichernd: «Das Verhandeln zwischen Theorie und Praxis war zwar nicht immer ganz einfach; wir haben aber viel Neues gelernt und können dieses Wissen für künftige Projekte nutzen.» Technologietransfer in Reinform also.